Warum ich in Ausschwitz war
Als ich vor rund 14 Tagen nach Ausschwitz zu einem interreligösen Peacemaker-Retreat aufbrach und mich von Freunden, Bekannten und Kollegenverabschiedete gab es manche ratlos verlegene Bemerkung: "Ja denn viel Spaß in Ausschwitz, oh, nein....was soll ich Dir da eigentlich wünschen? Gutes Gelingen? Erhol Dich gut?" Manche fragten mich auch:" Sag mal - so unter uns - warum tust Du Dir das eigentlich an? Ist das nicht Wahnsinn?" Nachdem ich gestern wieder zuhause eintraf kann ich sagen: Ja, es ist wahnsinnige Realität, was dort geschah, aber es ist heilsam dorthin zu gehen.
Meine Antwort auf die Frage, warum ich dorthin ginge, war: Um zu sehen, was ich nicht sehen will, zu hören, was ich nicht hören will, um zu fühlen, was ich nicht fühlen will.
In der Shamballa-Tradition gibt es den Begriff "aus dem Kokoon heraustreten", welcher inhaltlich sehr verbunden mit Bernard Tetsugen Glassman Roshis Begriff des "plunge" (engl. = Schwimmbecken) ist. Um ein Ausschwitz-Retreat zu verstehen mag vielleicht die Klärung der beiden Begriffe hilfreich sein.
Der Kokkon: Wir alle schaffen uns während unseres Lebens einen Kokkon. Er ist schön warm, nett anzusehen und besteht z.B. aus unseren Lieblingfilmen, Serien, unseren Vorstellungen von all dem was nett ist und was fies, dem neuen Videorecorder, Harry Potter-Büchern, und, und, und...all die netten Ablenkungen, die uns das Leben versüßen. Der Haken an unseren netten rosa Kokkons ist, dass sie den Kontakt mit dem, was ist, mit dem In-Kontakt-Sein mit dem uns Umgebenden, verhindern.
Bernies "plunge" ist, in ein Becken zu springen und den Schritt ins Unbekannte zu tun, sich dem Unbekannten auszusetzen und hierüber in Kontakt zu treten mit dem Sein - aus dem Kokkon heraustreten. Das Ausschwitz-Retreat ist solch ein "plunge". Es ist unmöglich, sich seiner Wirklichkeit zu entziehen. Und deshalb ging ich nach Ausschwitz - um diesen Schritt ins Nichtwissen zu tun, mich von dem, was ist, berühren zu lassen. Ich tat dies zusammen mit über 140
Teilnehmern aus Amerika, Japan, Polen, Frankreich, Belgien und anderen Ländern, zusammen mit Christen, Buddhisten, Moslems, Indianern und Hindus und wir alle kamen dort zusammen, um unsere Erfahrungen dort, unsere Geschichten und auch unsere Abgründe miteinander zu teilen.
Und ja, ich habe sie alle dort getroffen, all ihre Stimmen gehört - tagsüber, in der Dämmerung, nachts. Die der zahllosen Menschen, die dort zusammenbrachen, verhungerten, vergast oder erschossen wurden weil sie anders waren, man Nutzen aus ihrem Tode zog, sie nicht "ins Bild passten", weil sie als minderwertig betrachtet wurden. Ich habe mich dort wiedergefunden, den, unzählige Male gemieden wurde, ausgesondert wurde, innere Tode sterben musste weil er nicht ins Bild passte, anders war und deshalb fort musste. Ich ging durch die Gaskammer und in meiner Vorstellung nahm ich alle Seelen bei der Hand, langsam und behutsam, und führte sie heraus ans Licht. Während der Meditationen auf der Selektionsrampe wurden ihre Namen laut verlesen.
Ich habe die SS-Offiziere und Lagerkommandanten gesehen und gehört, welche sorgfältig und mit glasklarer Berechnung all dies in die Wege leiteten und Menschen in brauchbar und unbrauchbar gruppierten. Auch dort traf ich mich. Ich traf den, der sich immer wieder dafür sanktionierte, strafte und ausmerzte, dass er nicht so war wie er zu sein wünschte und der fast systematisch dafür Sorge trug, dass ich litt. Den, der an der Supermarktkasse die Hausfrau verflucht, weil sie solange nach Kleingeld sucht.
Und nicht zuletzt begegnete ich jenen, die Ausschwitz überlebten und sprach mit ihnen. Und ich traf den in mir, der ebenso überlebte, nicht aufgegeben hat zu kämpfen für das Leben, für das Sein.
Doch ich begegnete auch vielen anderen wunderbaren Menschen. Neben vielen zen-buddhistischen Lehrern z.B. dem alten Rabbi, dessen Nähe allein schon Balsam für die Seele war, Ali, dem Sufi-Sheik, mit dem ich bis in die tiefe Nacht Sufi-Lieder sang. Mit Peter Matthiessen, dem Autor zahlreicher Bücher über Zen und andere Themen, teilte ich die Suppenschüssel und nicht zu vergessen Tuffi, der indianische Sundancer, dessen zärtliche Umarmung die eines übermütigen Grisslybären ist. Sharon, eine ältere jüdische Dame, die zu Beginn nicht einmal das Zimmer mit einer Deutschen teilen wollte und die mich zum Ende immer wieder knutschte mit der Bemerkung: "Wenn ich zuhause erzähle, dass ich einen deutschen Mann umarmt und geküsst habe glaubt mir das keiner!" All das sind Bilder, Eindrücke aus einem Meer von Eindrücken und Erfahrungen aus diesen Tagen, Stoff eher für ein Buch als für eine Webseite - oder mit anderen Worten, Stoff für ein ganzes Leben.