Interview mit Chen-Stil Meister Zhu Tiancai
Einer der "Tiger von Chenjiagu" auf dem Wushan
Einmal mehr hat sich die Wushan
International Association darum bemüht, einen hochgradigen Referenten in
Sachen Taijiquan nach Aachen einzuladen und aufgrund unserer guten
Zusammenarbeit mit dem Taijiquan & Qigong e.V. München, insbesondere
dank Andreas Graf, war es uns möglich, Meister Zhu Tiancai "auf den
Wushan" nach Aachen zu holen. Meister Zhu ist Linienhalter der 19.
Generation Chen-Taijiquan und einer der "Fünf Tiger von
Chenjiagou".
Natürlich war es uns vom Wushan wichtig, solch einen Meister erster
Garde zu befragen und Antworten auf Fragen zu bekommen, die viele von
uns interessieren. Zum Rahmen des Interviews: Es fand zu dritt in Pauls
Wohnung bei mehreren Tässchen Lungjing-Tee statt in recht offener und
freundschaftlicher Atmosphäre. Im Folgenden das Interview mit Meister
Zhu Tiancai, gehalten von Paul Shoju Schwerdt, übersetzt von Andreas
Graf. Meister Zhus Antworten stehen jeweils in Kursivschrift.
Es ist die Standard-Eröffnungsfrage, deshalb möchte auch ich sie an den
Anfang stellen. Wie bist Du zum Taijiquan gekommen?
Chenjiagou hat eine 600 jährige Geschichte und dann gibt es noch
weitere 600 Jahre Geschichte ohne Aufzeichnung. Die letzten 600
Jahre sind vom Taijiquan geprägt; kurzum, es gab keine anderen
Aktivitäten in Chenjiagou als Taijiquan! Jeder macht Taijiquan, nur
trennt es sich dann später. Die einen machen weiter und ihr
Interesse wächst, bei den anderen lässt es halt nach.
Nun gehörst Du ja zu denjenigen, die
weitergemacht haben. Was war es, was Dich so daran faszinierte?
Ich habe oft meinen Verwandten und Bekannten zugeschaut und ihr
Gongfu war so faszinierend - wie meine Lehrer Angriffe ins Leere
leiteten, in keinster Weise zu hebeln waren... Vor allem auch, dass
man vom Lehrer einerseits die Theorie vermittelt bekam, man selber
aber dann auch die Ergebnisse spüren konnte.
Es gibt ja eine menge an Theorie und Prinzipien im Taijiquan. Würdest Du
die Theorie des Taijiquan versuchen, in zwei Sätze zu fassen, wie
würdest Du es formulieren?
Es ist die Wechselwirkung von hart und weich. Weiterhin: Locker und
natürlich sein. Da steckt schon alles drin!
Greifen wir in die Geschichtskiste. Die
landläufige Historie ist ja, auch in der Literatur, dass Taijiquan wie
auch andere Neijia-Stile aus dem Wudang kommt. Nun, kommt Taijiquan vom
Wudang?
Es gibt keine Beweise hierfür. Viele Leute möchten glauben, dass es
so gekommen ist. Es hat halt etwas Faszinierendes, wenn eine Kunst
von einem Unsterblichen kommt, von einem Aussergewöhnlichen. Im
Wushu ist es z.B. der Bezug zu Shaolin, Boddhidharma, in den
Nijia-Stilen ist es Wudang, ist es Zhang Sanfeng.
Unterscheidest Du zwischen tudi (angenommenen) und "normalen"
Schülern?
Grundsätzlich nicht. Ich geb Dir ein Beispiel: Der eine legt eine
solche tudi-Zeremonie ab, aber danach übt er nicht. Was ist das?
Dann gibt es andere, die keine angenommenen Schüler sind, aber die
trainieren hart und fleissig, unterstützen ihren Lehrer. Heutzutage
macht man so was kaum noch, solche Tudi-Zeremonien.
Aber z.B. Chen Liqing, Wang Peisheng u.a.
machen es?
Ja, ich weiss. Ich glaube es war Chen Zhenglei, der damit in den
Achtigern auf Drängen seiner Schüler anfing. Auch andere. Einige
wollten halt auch einen Nachweis, dass man aus der Linie XY stammte.
Chen Liqing hat auch immer nur wenige Schüler angenommen, da geht
das auch noch. Ich habe mehrere 10.000 Schüler, wo würde das
hinführen?
Einigen Schülern habe ich allerdings auch Zertifikate
ausgestellt.
Wirklich, was waren die Kriterien hierzu?
Sie mussten halt gut sein.
Was bedeutet "gut" in diesem Zusammenhang?
Tja,. Du musst unterrichten. Du musst den Stoff beherrschen. Chen
Fake übte die Laojia Lu 30x täglich. Ich habe sie 25x täglich
geübt.
Du zählst, wie Chen Xiaowang, Chen Zhenglei und Wang Xian zu den
sogenannten "Vier Buddhawächtern oder Tigern von Chenjiagou"? Gibt es
ein bestimmtes Gremium, welches diese ernennt und woher stammt der Name?
Ehrlich gesagt weiss ich das selbst nicht so genau, woher dieser
Titel kommt und wer ihn schuf. Weisst Du, es war damals so, dass
halt einige Leute immer wieder bei grossen Vorführungen und
Veranstaltungen, vor allem auch in Chenjiagou, gebeten wurden dort
anzutreten. Und es waren immer die gleichen vier. Die Japaner luden
uns oft zu Seminaren ein. Ich denke, dass es vielleicht einer der
japanischen Veranstalter war, der uns irgendwann "Die vier Tiger aus
Chenjiagou" nannte.Aber so genau weiss ich das nicht.
Mittlerweile gibt es ja neben den traditionellen Formen eine ganze Reihe
mehr: Kurzformen, Wettkampfformen, Syntheseformen. Was hälst Du
davon?
Nun, es gibt - wenn Du so willst - drei Arten von Taiji, zumindest
hat sie ein Taiwanese einmal so treffend aufgegliedert:
Die erste ist mehr ein langsamer Tanz, ein netter Bewegungssport im
Park.
Die zweite Form ist ein Taiji, das primär einen Vorführeffekt hat,
es soll halt schön aussehen.
Und dann gibt es Taijiquan. Das Wechselspiel von hart und weich,
wirkliches Können erreichen, gutes gongfu.
Und wenn Ihr diese drei Spielarten hört, fragt Euch selbst, welche
davon einen Teil chinesischer Kultur ausmacht.
Wo innerhalb dieser drei Rubriken ordnest Du Wettkampfformen ein?
Oh, das kann ich nicht sagen (lacht).
Das neigong ist wesentlicher Teil des Taijiquan. Ist es leichter für
einen Chinesen, neigong zu erlernen als für einen Nichtasiaten?
Schauen wir uns das mal an, ein interessantes Thema: In Europa sieht
man offenbar mehr Leute, die Neijia machen wollen. Warum lernen mehr
Leute im Westen Taijiquan als Shaolin? Bei uns in China sagt man, Du
brauchst 5 Jahre um Shaolin zu lernen, 10 Jahre um Taijiquan zu
lernen.. In China lernen 80% der Kinder Shaolin-Stile und nur 20%
Taijiquan. Wieso ergibt sich in Europa solch ein Bild? Warum machen
es die Kinder in China so?
Weil schnell lernen leichter erscheint als langsam. Aber wie ist es
tatsächlich? Wie ist es mit dem Autofahren? Erst fahren wir langsam,
dann allmählich schneller.
Neuerdings gibt es ja auch noch sogenannte Syntheseformen. Was hälst Du
davon?
Na ja. Sie sind gemacht worden, damit verschiedene Taiji-Sportler
zusammen üben können.
Du sprachst eben davon, was es ausmacht, "gut" im Taijiquan zu sein.
Wieviel sollte man Deiner meinung nach üben, um ein "gutes" Niveau zu
erreichen?
Gu Liushin hat einmal gesagt, es sei sehr schwer, ein gutes gongfu
zu erreichen. Wenn man ein hohes Level erreichen will, sollte man
täglich 4 Stunden üben. Und man muss Unterricht von einem guten
Lehrer haben. Und korrekt üben.
Was bedeutet "korrekt üben"?
Selber die Prinzipien beachten, mitdenken. Die Bewegungen müssen den
Prinzipien folgen, korrekte Stellungen, nicht hochkommen in der
Bewegung. Nach 10 Jahren stellt sich dann auch Erfolg ein.
Jetzt haben wir eine Vorstellung davon,
was Du meinst, wenn Du von "gutem" Taijiquan sprichst. Aber jetzt mal
unter uns gesprochen: Du erzählst von mehreren 10.000 Schülern. Wieviele
davon sind "gut"?
Ein oder zwei. Nun, es ist auch verständlich. Man geht zur Arbeit,
hat Familie, andere Verpflichtungen, andere Prioritäten. Wer kann
schon soviel trainieren? Es gibt nicht darunter, die 2 Stunden
täglich üben, im Ausland noch weniger. Chen Fake hat dreißigmal
täglich die Form geübt. Das ist der Maßstab für ein gutes
Level.
Wie oft machst Du sie?
Ich habe sie fünfundzwanzigmal täglich geübt. Jetzt kann man sich
ausrechnen, wieviel Zeit das ungefähr täglich ist.
Es gibt ja einige Taijiquan-Stile. Yang- und Wu-Stil sehen äußerlich
betrachtet leichter zu lernen aus. Nicht all die Dynamik-Wechsel in der
Form, nicht so tief von der Stellung her - macht es überhaupt Sinn auch
noch in fortgeschrittenem Alter mit Chen zu beginnen?
Das ist eine Frage des Lehrers, ob es schwer oder leicht zu erlernen
ist. In Chenjiagou übt man von 6 bis 80. Natürlich sollte man den
Unterricht anders aufbauen, als wie wir damals unterrichtet wurden.
Damals kam der Lehrer ab und zu mal zum Training, zeigte eine neue
Bewegung, sagte: "So, übt das mal!" und verschwand wieder. Es wurde
nicht viel erklärt.
Taijiquan war ja ursprünglich eine Kampfkunst. Macht es
heute Sinn, Taijiquan als Selbstverteidigung zu erlernen?
Ich unterrichte nicht zuletzt auch mit dem Aspekt der Anwendung, der
Selbstverteidigung. Aber man muss viel, hart und gut üben, um dieses
Level zu erreichen. Erstmal übt man für die Gesundheit, später baut
man den Körper damit auf und dann kann man anfangen, für die
Kampfkunst zu trainieren.
Du hast im Chen-Stil den Laojia gelernt, den Xinjia, den
Xiaojia. Welcher davon ist Dein persönlicher Favorit?
Alle (lacht).
Seit einiger Zeit verbreitet sich das Doan-System in China
als eine Art Graduierungssystem. Was denkst Du darüber und bist Du
diesem System auch zugeordnet?
Nein, ich bin nicht erfasst. Es ist halt ein System, Taijiquan und
andere Künste zu verbreiten, sie zu organisieren. Nicht mehr, nicht
weniger.
Es gibt mittlerweile eine größere Zahl von Menschen, die
Taijiquan unterrichten. Was sollte solche eine Person Deiner Meinung
nach "drauf" haben?
Er/Sie muss gut organisieren können - und er muss auch richtig gut
sein.
Und was bedeutet das?
(Lacht) Tja, dass muss jeder selbst entscheiden.
Herzlichen Dank für das Interview!