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Erinnerungen an Meister Xia Tao

Am Donnerstag den 31. August 2000 verstarb Xia Tao im Alter von 51 Jahren an den postoperativen Folgen eines sogenannten medizinischen Kunstfehlers. Zum Gedenken an meinen Lehrer möchte ich hier von den Bildern erzählen, die mir in den letzten Tagen seines Leidens und heute, einen Tag nach seiner Beerdigung, immer wieder vor Augen stehen.

Ich begegnete ihm zum ersten Mal in China, als ich an der Akademie der Schönen Künste in Hangzhou/V.R. China Tuschemalerei studierte. Seinerzeit hatte ich die Sekretärin des Akademie-Büros gebeten sich nach einem möglichst guten Taijiquan-Lehrer für mich umzusehen. Nach chinesischer Sitte war man bemüht, mir Land und Leute von der besten Seite zu zeigen und so fiel ihre Wahl auf Taijiquan-Meister Xia Tao, den Präsidenten der Hangzhou Wushan International Taijiquan Society. Ich erinnere mich noch gut an unseren ersten Unterricht auf dem Parkplatz des Hotels.

Er fragte mich, ob ich schonmal Taiji gemacht hätte und stolz antwortete ich wahrheitsgemäß: "Na klar, schon über 10 Jahre!" Selbstbewußt führte ich ihm Sequenzen meiner Formen vor und heute weiß ich, wie sehr er wohl innerlich geschmunzelt haben muß.

Ein anders Bild meiner Erinnerung ist sein "Tauglichkeitstest". Ich nervte meinen Lehrer stundenlang weil ich "alles" lernen wollte, und zwar richtig und nicht das verbreitete "Touristen-Taiji".

Er lächelte und fragte mich ob ich bitter essen könne (und ich bin sicher, er kannte den Film "Eisen und Seide" nicht!). "Na klar!" antwortete ich (denn ich kannte den Film). Am nächsten Morgen hatten wir wieder unsere Unterrichtsstunde und diesmal brachte er mir "bitter essen" bei: Mein einziger Gedanke war zwischendurch "..und wenn ich hier zusammenbreche, ich mache weiter!" Wie ein Eichhörnchen saß er zwischendurch auf meinem Rücken und schimpfte "Tiefer!", "Locker lassen!", "Tiefer!" und es gab keinen Körperwinkel, an dem er nicht etwas auszubessern hatte. Schweißdurchnäßt und dem Heulen nahe stand ich zwei Stunden später im Huagang-Park und lächelnd fragte er mich: "Und, möchtest Du immer noch Taijiquan lernen? Dann komm morgen wieder hierhin!"

Am nächsten Morgen - ich hatte erhebliche Schwierigkeiten aus dem Bett zu "rollen", mehr noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen - kam ich wieder zum verabredeten Treffpunkt und er fragte mich, ob ich richtiges Taijiquan lernen wolle. "Na klar!" (jetzt erst recht, dachte ich). Von diesem Tag an wurde das Training vollkommen anders. Er war strenger und doch auch liebevoller, erklärte mir mit gelassener Selbstverständlichkieit jedes Detail - selbst auch dann, wenn ich offensichtlich seine Antworten kaum verdauen konnte (vieles versteht man erst Jahre später). Einige Wochen später sollte ich zu einem anderen Trainingstreffpunkt kommen, zum Park neben der Xiling-Stempelgesellschaft. Dort angekommen traf ich Xia Tao, aber auch eine Reihe anderer nicht unbekannter Gesichter. Während unserer Trainingsstunden waren oft "Bekannte" von Xia Tao des Weges gekommen, ganz zufällig, hiess es. Mal war es der Briefträger, mal ein Nachbar, mal der Mann vom Gemüseladen nebenan. Doch eben die waren heute morgen auch alle "zufällig" anwesend und stolz forderte mich Xia Tao auf nun zu zeigen, was ich bis dahin gelernt hatte.

Offenbar war man mit meinem Fortschritt zufrieden denn man applaudierte heftig und meinte, dass könne man wohl kaum in wenigen Monaten lernen, woraufhin Xia Tao über das ganze Gesicht strahlte und und auf deutsch antwortete: "Na klar!" Nun ging das große Fachsimpeln los, jeder wollte mal mit dem "Neuen" pushen, Hände schütteln, Fotos machen etc. und hierbei stellte sich auch denn heraus, dass die angeblichen Bekannten mehr oder minder prominente Taijiquan-Meister der HWITS waren. Dieser Tag war der Tag, an dem ich offiziell und zeremoniell als tudi (offizieller Schüler) Xia Taos angenommen wurde.

Lebhaft habe ich "mein Zimmer" in Hangzhou vor Augen. Obwohl Xia Tao wie die meisten Menschen in China in sehr bescheidenen und engen Wohnverhältnissen lebte war es von nun ab Pflicht ohne wenn und aber,dass ich während meiner Soloaufenthalte in China in Xia Taos Wohnung lebte und so den chinesischen Alltag entdecken durfte. Hierzu hatte man die Kinder ins elterliche Schlafzimmer einquartiert so dass ich über ein "eigenes Zimmer" verfügen konnte. Als nunmehr Familienmitglied durfte ich Meister Xia Tao denn auch rund um die Uhr begleiten und dies begann morgens um 6.00 Uhr. Mit dem Fahrrad strampelten wir zum Platz gegenüber der Oper von Hangzhou, wo Xia Tao täglich zwei Gruppen unterrichtete. Die erste Gruppe lernte Yang-Stil (dajia = grosser Rahmen) und die zweite lernte den nördlichen Wu-Stil. Immer wieder wies er mich während des Trainings auf die kleinen aber feinen Unterschiede zwischen öffentlichem Training und dem Trainingsprogramm von tudis hin, auf die Tatsache, dass es taiji, taiji und taiji gibt. Es war ein großes Geschenk für alle seiner Schüler, das Xia Tao alle großen Stile des Taijiquan bei den jeweils bedeutendsten Repräsentanten der Stile erlernt hatte. Seine Lehrer waren die creme de la creme des taiji in China, u.a. Wang Peisheng (Wu-Stil), Chen Liqing (Chen-Stil) und Jiang Yukun Yang-Stil (xiaojia und dajia). So war Meister Xia Tao beispielsweise Vertreter der 5. Generation Yang-Stil dajia nach Yang Luchan, 4. Generation Yang-Stil xiaojia nach Yang Banhou über Kung Rentian und 18. Generation im Chen-Stil. Dies bedeutete eine Fundgrube an Wissen und Erfahrung um die Prinzipien und Techniken der Kunst Taijiquan.

Nach dem morgentlichen Frühstück gingen wir gemeinsam frühstücken und einkaufen. Meister Xia Tao war nicht nur ein famoser Taiji-Lehrer sondern auch ein hervorragender Koch, der seine Familie und Gäste gern und mit Leidenschaft bekochte. Seine Wohnung war denn auch täglicher Treffpunkt vieler Taijiquan-Meister, die auf ein Schwätzchen vorbeikamen und ehrlich gesagt kann ich mich an keinen Abend erinnern, an dem nicht irgendwann Tische und Stühle beiseite geschoben wurden und großes Pushen und Fachsimplen angesagt war.

Nachmittags saßen Xia Tao und ich manchmal auf dem Bett und schauten Fotos oder Videoaufnahmen von berühmten Taijiquan-Größen, die Xia Tao dann ausführlichst mit Händen und Füssen kommentierte.

Ein Lehrer wie er, der bei den Cracks in die Schule gegangen war, wußte natürlich reichlich Anekdötchen aus der offiziellen und inoffiziellen Taijiquan-Historie zu erzählen, was immer wieder ein Heidenspaß war. So war er streng mit seinen tudis, aber auch im Urteil über einige populäre Taijiquan-Größen, die er fachkundig als schlechte Neijia-Vertreter auswies, da ihr Vermögen eher entweder auf li (Einsatz von Körperkraft) oder auf biologischer Abstammung beruhte als auf dem Beherrschen der Kunst.

Sein tudi zu sein war für mich auch als Zen-Praktizierender eine gute Übung, beständig im hier und jetzt zu sein und nicht an festgefahrenen Vorstellungen zu haften. Xia Tao war ein Meister darin, eben erstellte Vorhaben und Projekte zu canceln und neue aus dem Ärmel zu schütteln. Da fällt mir z.B. die Geschichte ein, als er zum ersten Mal in Deutschland war: Ich hatte zu Beginn einen Zeitplan mit einigen Sightseeing-Touren ausgetüftelt, der es ermöglichte neben meinen privaten Verpflichtungen, dem Training und Seminaren, meinem Lehrer etwas von Deutschland zu zeigen. Am 2. Tag nach seiner Ankunft jedoch stand unerwartet Meister Zhang Youquans Sohn (der in Freiburg studierte) morgens um 6.00 Uhr vor meiner Haustüre um mit Xia Tao auf Tour zu gehen. Ich mußte arbeiten und hatte eine NRW-Tour für die nächsten Tage geplant, doch die zwei waren nicht mehr davon loszubringen, an diesem Tag auf eigene Faust NRW zu erobern (hierbei sei gasagt dass beide Null-Ahnung in Sachen "Reisen in Deutschland" hatten).

Xia Tao u. P.S. SchwerdtAbends kamen beide zufrieden aber mit qualmenden Socken wieder zuhause an und berichteten strahlend über einen Trip von Düsseldorf über Köln nach Bonn, wo beide doch tatsächlich das Kanzleramt besichtigt und "Birne" Helmut Kohl ein Autogramm abgeschwatzt hatten, welches sie stolz präsentierten.

Etliche solcher Geschichten gäbe es noch zu erzählen und sie alle handeln von einem einzigartigen liebeswürdigen und stillen Taijiquan-Enthusiasten, der viel zu früh für immer die Hände schloss.

Erst in den letzten Jahren hatte er begonnen seine bis dahin streng gehütete "Perle" zu unterrichten, den Yang-Stil xiaojia, von dem es selbst in China nicht mal eine handvoll Repräsentanten gibt. Der xiaojia geht auf Yang Banhou, Yang Luchans Sohn, zurück und ist somit ursprünglicher als der später von Yang Chengfu modifizierte dajia. Dieser xiaojia ist denn auch der "Vater" des späteren Wu-Stiles.

Leider konnte er die Veröffentlichung seines zweiten Buches nicht mehr miterleben, welches im Herbst in China herauskommt und zum Kernthema Roushou und Taijiquan-Prinzipien hat.

Xia Tao starb an den Folgen eines alltäglichen chirugischen Eingriffs. Man vermutete ein Leberkarzinom und zur Überprüfung wurde er laparascopiert. Das Ergebnis war jedoch negativ, er wurde als topgesund entlassen und zufrieden ging Meister Xia Tao nach Hause. Am nächsten Tag schwoll sein Bauch an und man stellte fest, dass er innerlich schon so gut wie verblutet war. Er hatte bereits 2,5 Liter Blut verloren und verstarb einen Tag später.

Xia Tao hinterläßt eine Familie mit zwei Kindern, Xia Keli und Xia Kebin, eine große Schar von Schülern und Freunden. Der Kreis der großen Lehrer und Fachleute des Taijiquan wird einmal mehr kleiner und mit ihm versinkt wieder ein Stück Wissen um die alten Lehren im Strudel des Werdens und Vergehens. Möge seine Hinterlassenschaft eine Saat sein für alle Taiji-Freunde. Nicht zuletzt er war es, der viele Repräsentanten der einzelnen Stile in der HWITS zusammenführte um gemeinsam die Puzzlestücke der alten Tradition wieder zusammenzufügen, gemeinsam zu lernen und Forschung zu betreiben.

 

Paul Shoju Schwerdt